Warum kommt KI noch nicht im klinischen Alltag an?

18. Februar 2021
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M. Sc.
Nele Bihler
Inhaltsverzeichnis
Seit mehreren Jahren werden Radiologiekongresse von einem grossen Hype um Künstliche Intelligenz (KI) begleitet. Auch in der Forschung nimmt die Zahl der Publikationen in diesem Themengebiet stetig zu.

Selbst Turing-Award Preisträger und Miterfinder des Backpropagation Algorithmus Geoffrey Hinton sagte 2016 man solle gar keine weiteren Radiolog:innen ausbilden, da künftig KI die Arbeit von Radiolog:innen übernehmen würde.

Seit dieser Aussage sind vier Jahre vergangen. Der Arbeitsalltag von Radiologinnen und Radiologen hat sich jedoch kaum verändert. In diesem Artikel stelle ich fünf Gründe für diese Diskrepanz vor.

1. Aktuelle KI-Tools beherrschen je eine präzise Fragestellung

Aktuelle Machine Learning-Algorithmen können sehr genau abgesteckte Aufgaben gut lösen, wenn sie von grossen Trainingsdatensätzen lernen. Das bedeutet, dass die Aufgabe für eine KI-Anwendung a priori exakt definiert sein muss. Beispielsweise kann ein Algorithmus, der darauf trainiert wurde, intrakranielle Blutungen zu erkennen nicht zur Erkennung von Frakturen genutzt werden. Dafür wäre nach heutigem Stand ein neuer Trainingsdatensatz mit anderen Annotationen und ein neues Training nötig.

Für eine Anwendung von KI in der Breite, müsste also für jede einzelne radiologische Fragestellung ein neues Modell entwickelt werden, was extrem aufwändig ist.

2. Datensätze sind oft klein und von fragwürdiger Qualität

Die grossen Durchbrüche von KI ausserhalb der Medizin wurden durch sehr grosse Datensätze erzielt. Firmen mit grossen Datensätzen können auf Millionen oder Milliarden von Nutzerdaten zurückgreifen, um Ihre Algorithmen zu trainieren. Beispielsweise kann Netflix seinen Nutzern mittels einer KI so Vorschläge machen, welche Filme ihnen voraussichtlich gefallen.

Damit KI-Anwendungen in der Radiologie ihr Potential voll ausschöpfen, müssten Untersuchungszahlen in einer Grössenordnung von vielen tausend Untersuchungen zum Training genutzt werden, wohlgemerkt für jede einzelne radiologische Fragestellung (siehe Punkt 1). Diese müssen dann jedoch noch aufwändig weiter aufbereitet werden: Für Supervised Learning der aktuell performantesten Variante von KI, werden zum Training nicht nur radiologische Bilddaten, sondern auch die zugehörigen Diagnosen benötigt, anhand derer die Algorithmen trainiert werden können. Dies sind jedoch oft im Prosatext des Befunds „versteckt“, also nicht maschinenlesbar für einen Computer. Infolgedessen müssen die Diagnosen in aufwändiger Handarbeit aus den Befunden extrahiert und in maschinenlesbarem Format, z.B. in Tabellen, gespeichert werden.

Infolge dieses aufwändigen Datenworkflows sind die aktuell genutzten Datensätze oft sehr klein und umfassen hunderte bis wenige tausend Untersuchungen. In dieser Grössenordnung ist es schwierig bis unmöglich für die KI-Algorithmen ihr Potential auszuschöpfen.

3. Begrenzte Reproduzierbarkeit und Generalisierung

KI-Algorithmen lernen aus Daten und sind aktuell noch nicht sehr robust gegenüber leichten Änderungen der Daten. Beispielsweise könnte ein Algorithmus, der anhand von Passfotos aus China darauf trainiert wurde, Gesichter zu erkennen keine zuverlässigen Erkennungen bei Gruppenfotos aus Deutschland liefern, obwohl auch auf diesen menschliche Gesichter zu sehen sind. Dieses Problem überträgt sich auf KI-Anwendungen in der Radiologie: MRI-Bilder unterscheiden sich je nach Feldstärke, verwendeten Sequenzen und Rekonstruktionsalgorithmen. Damit KI-Anwendungen einen verlässlichen Mehrwert bieten müssen sie robust gegenüber diesen Bildakquisitionsparametern sein.
Ein weiterer wichtiger Faktor für reproduzierbare Genauigkeit liegt in der Patientenpopulation. Aktuelle KI-Anwendungen sind grösstenteils noch nicht ausgiebig genug auf einem diversen Patientenkollektiv evaluiert worden.

4. Konkreter Vorteil für Arzt und Patient unklar

Damit KI-Anwendungen Radiologinnen und Radiologen einen Mehrwert bieten, müssen diese deren Arbeit effizienter machen und die Qualität des Befunds steigern. Eine sehr effiziente Einbindung in PACS/RIS-Systeme und Diktiersoftware ist darum unerlässlich. Jedoch sind die wenigsten KI-Anbieter auch gleichzeitig Anbieter von PACS/RIS-Systemen. Für eine effiziente Einbindung in den radiologischen Workflow müssen darum mehrere Softwareanbieter eng zusammenarbeiten und ihre jeweiligen Produkte integrieren. Dieser Prozess ist bereits im Gang, aber es wird noch dauern bis kommerzielle KI-Anwendungen in der Breite in den meisten PACS/RIS-Systemen verfügbar sind.

5. Zulassung aufwändig

Die Zulassung (CE oder FDA-Zertifizierung) ist aufwändig und teuer. Um den Nutzen und die Leistungsfähigkeit im Zuge einer Zulassung zu beweisen sind umfangreiche prospektive Studien mit einem grossen Patientenkollektiv erforderlich. Obwohl es sich um reine Softwareanwendungen handelt ist der Produktentwicklungsprozess darum eher mit der Entwicklung von Medikamenten in der Pharmaindustrie als mit klassischer Softwareentwicklung zu vergleichen, was sich sowohl auf die Kosten als auch auf die Zeit, bis solche Algorithmen am Markt verfügbar sind auswirkt.

Ausblick

Dieser Beitrag ist keineswegs als Ablehnung von KI-Anwendungen in der Radiologie zu verstehen. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass KI in Zukunft eine tragende Rolle im radiologischen Alltag spielen wird. Jedoch stehen wir noch am Anfang dieses Prozesses. Fragen nach Datenqualität, Reproduzierbarkeit, Bias, Workflow-Einbindung und Zulassung werden in diesem Prozess eine ebenso wichtige Rolle spielen wie reine Prozentzahlen zur Genauigkeit, die den Hype aktuell befeuern. KI wird Radiolog:innen in naher Zukunft nicht abschaffen. Vielmehr werden diese als „Augmented Intelligence“ ein weiteres Tool im Repertoire einer Radiologin bzw. eines Radiologen sein, das es ermöglicht effizienter zu arbeiten und die Befundqualität zu steigern.